Aus dem Familienrecht informiert die Kanzlei Recht am Ring aus Hamburg-Harburg:
“Kindesumgang gegen den Willen der Kinder – Ein Beschluss des Bundesverfassungsgerichts“
Können Kinder gegen ihren Willen zum Umgang mit einem Elternteil gezwungen werden?
Grundsätzlich: ja.
In seinem Beschluss vom 15.06.2023 hat sich das Bundesverfassungsgericht insbesondere mit der Frage beschäftigt, wie schwer die Belastung einer dritten Vollstreckung der Herausgabe der Kinder, also des 3. Versuchs, die Kinder gegen ihren erklärten Willen mit Hilfe von Gerichtsvollzieher, Jugendamt und Polizei aus dem Haushalt der Kindesmutter zum Vater zu bringen, wiegt.
Die Beschwerdeführerin hat zwei Kinder (geboren 2012 und 2016) und lebt seit Anfang 2020 getrennt vom Kindesvater und Ehemann. Insbesondere zum Aufenthaltsbestimmungsrecht (Teilbereich des Sorgerechts) gab es in den letzten Jahren unterschiedliche gerichtliche Entscheidungen, die mehrfach zu Aufenthaltswechseln der Kinder führten.
In einem einstweiligen Anordnungsverfahren wurde im Juni 2020 dem Vater vorläufig das Aufenthaltsbestimmungsrecht allein übertragen. Bei diesem Aufenthaltswechsel kam es erstmals zur Vollstreckung der angeordneten Herausgabe der Kinder unter Hinzuziehung von Polizeikräften, einem Gerichtsvollzieher und dem Jugendamt.
Nachdem das Familiengericht im Hauptsacheverfahren das Aufenthaltsbestimmungsrecht wieder auf die Beschwerdeführerin übertragen hat, ließ sie trotz festgelegten umfänglichen Umgangsrechts des Vaters den Umgangskontakt seit September 2022 nicht mehr zu. Das begründete sie mit der Ablehnung der Kinder.
Als daraufhin der Vater das Ausgangsverfahren zur vorläufigen Regelung des Sorgerechts erneut anregte, übertrug ihm das Familiengericht im November 2022 vorläufig das Aufenthaltsbestimmungsrecht. Es kam erneut zu einer Vollstreckung der Herausgabeanordnung im Beisein von Polizeikräften, Gerichtsvollzieher sowie dem Jugendamt.
Ende Januar 2023 hob das Familiengericht seinen Beschluss aus dem November 2022 auf, was dazu führte, dass das Aufenthaltsbestimmungsrecht wieder die Mutter innehatte. Nach einer Beschwerde des Vaters wurde die Entscheidung aus dem Januar 2023 vom Oberlandesgericht abgeändert und dem Vater vorläufig das alleinige Aufenthaltsbestimmungsgesetz übertragen. Das Familiengericht hat schließlich im Juni 2023 die Herausgabe der Kinder an ihren Vater angeordnet.
Gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts erhob die Mutter erhob vor dem Bundesverfassungsgericht und macht unter anderem geltend, in ihrem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 GG verletzt zu sein. Zudem stellte sie einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG mit dem Ziel, die Vollziehung der Entscheidung zum Aufenthaltsbestimmungsgesetz und damit die Herausgabe der Kinder vorläufig auszusetzen. Das begründete sie insbesondere mit dem den Kindern drohenden Schaden durch eine weitere Herausgabevollstreckung.
Der § 32 Abs. 1 BVerfGG bietet mit dem Erlass einer einstweiligen Anordnung die Möglichkeit einen Streitfall vorläufig zu regeln, „wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist.“
In einer Folgenabwägung wird gegenübergestellt, welche Folgen bei Nichtergehen der einstweiligen Anordnung und späterem Erfolg der Verfassungsbeschwerde drohen, und welche Nachteile entstehen, wenn die einstweilige Anordnung erlassen wird und die Verfassungsbeschwerde später keinen Erfolg hat. Im Falle von Sorgerechtsstreitigkeiten ist zu beachten, dass diese Abwägung sich besonders am Kindeswohl orientiert.
Hier ist das Bundesverfassungsgericht infolge der Abwägung zu dem Ergebnis gekommen, dass der Erlass der einstweiligen Verfügung aus Gründen des Kindeswohls geboten ist:
Es wird angeführt, dass es bei Nichtergehen der einstweiligen Anordnung und einer erfolgreichen Verfassungsbeschwerde zu einer erneuten Vollstreckung, voraussichtlich nach dem gleichen Ablauf, der Herausgabe der Kinder kommen würde. Dies würde zu erheblichen Belastungen für die Kinder führen, insbesondere vor dem Hintergrund, dass dies bereits die dritte Vollstreckung dieser Art wäre. Zudem haben die Kinder ein Recht auf Selbstbestimmung, von welchem sie mit Kundgabe ihres Willens Gebrauch machen. Sie lehnen den Kontakt zum Vater mittlerweile ab. Es kann sich schädlich auf die Kinder auswirken, wenn sie Missachtung der eigenen Persönlichkeit erfahren. Hinzu kommt, dass es bei Erfolg der Verfassungsbeschwerde zu einer abweichenden Regelung des Aufenthaltsbestimmungsrecht kommen kann und das erneut zu einem Wechsel des Lebensmittelpunkts führen würde.
Bei Ergehen der einstweiligen Anordnung und erfolgloser Verfassungsbeschwerde dagegen, würden die Kinder vorerst bei der Beschwerdeführerin verbleiben. Das Oberlandesgericht hat, entgegen aktuellen Einschätzungen des Verfahrensbeistands, festgestellt, dass Zweifel bezüglich der Erziehungsfähigkeit der Beschwerdeführerin bestehen. Das könnte mit einer Kindeswohlbeeinträchtigung einhergehen. Zudem wird das Risiko einer weiteren Entfremdung vom Vater gesehen.
Das Bundesverfassungsgericht kommt zu dem Ergebnis, dass die Nachteile bei Erlass der einstweiligen Anordnung weniger schwer wiegen als die Folgen, die bei ihrem Ausbleiben zu erwarten sind. Dabei fällt vor allem ins Gewicht, dass ein ständiger Wechsel des Lebensmittelpunkts ohnehin schon belastend ist und dass diese Belastung durch die Umstände der Vollstreckung der Herausgabe noch erhöht wird.
Durch diesen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts wird wieder einmal deutlich, welche große Rolle das Kindeswohl bei diesen Entscheidungen spielt und vor allem, wie wichtig das ist.
BVerfG, Beschl. Der 2. Kammer des Ersten Senats v. 15.06.2023 – 1 BvR 1076/23 (OLG Köln, AG Köln)
Sollten Sie noch weitere Fragen haben oder mehr Informationen zu diesem Thema aus dem Familienrecht wünschen, steht Ihnen die Kanzlei Recht am Ring aus Hamburg-Harburg gern zur Verfügung.